
„Der Himmel ist die Grenze“
Leichtathlet Léon Schäfer und Rennrollstuhlfahrerin Merle Menje sind besondere Botschafter des paralympischen Sports. Sie beeindrucken mit ihren Leistungen ebenso wie als Persönlichkeiten. Die DFL Stiftung begleitet beide auf ihrem Weg.
Text Maximilian Türck
Fotos exklusiv für das DFL MAGAZIN Tillmann Franzen

Léon Schäfers Geschichte beginnt in Bremen. Dort wächst er auf, kickt leidenschaftlich gern für den TURA Bremen e.V. – und träumt vom Profifußball. Dass dieser ihn später einmal als Leichtathlet unterstützen würde, ahnt er damals nicht.
Beim Eislaufen rutscht eines Tages ein Junge vor ihm aus: Eine Kufe trifft ihn am rechten Schienbein. Schmerz und Schwellung behält Léon zunächst für sich. Erst zwei Wochen später weiht er seine Mutter ein, geht mit ihr zum Arzt. Eine Gewebeuntersuchung soll Klarheit über die Ursache bringen.
„Ich kann mich noch genau erinnern, wie meine Mutter mit dem Ergebnis nach Hause kam“, sagt Léon Schäfer heute ruhig. Der ärztliche Befund ist ein Schock: Knochenkrebs. „Ich wusste gar nicht, was das bedeutet.“ Eine Woche später liegt er im Krankenhaus und muss mit gerade einmal zwölf Jahren eine Chemotherapie über sich ergehen lassen. Nach mehreren operativen Versuchen, das Bein zu erhalten, muss es schließlich amputiert werden. Die Mitteilung der Ärzte trifft ihn sehr, aber die Erkenntnis, nie wieder Fußballspielen zu können, „war härter, als mein Bein zu verlieren“, sagt er.


Heute, zwölf Jahre später, hält Schäfer mit 7,24 Metern den Weitsprung-Weltrekord der einseitig Oberschenkelamputierten und ist für die Paralympics vom 24. August bis 5. September in Tokio nominiert. Eine Entwicklung, an der viele Menschen Anteil haben, insbesondere seine Mutter. Ihr zurückzugeben, was sie für ihn getan hat, ist sein größter Antrieb geworden.
Den entscheidenden Impuls für seine sportliche Karriere gab aber Markus Rehm, seit 2015 Inklusionspate der DFL Stiftung. Die Organisation „wünschdirwas e.V.“ arrangierte ein Jahr nach Schäfers Beinamputation ein Treffen. „Als ich Markus beim Training in Leverkusen besuchen durfte, habe ich gesehen, was mit einer Prothese möglich ist, und habe dadurch Blut geleckt“, erinnert sich Schäfer.
Er sattelt vom Fußball auf die Leichtathletik um, konzentriert sich auf den Weitsprung sowie den Sprint über 100 und 200 Meter. Nach fünf U23-Weltmeistertiteln fährt er 2016 als 19-Jähriger mit zu den Paralympics nach Rio de Janeiro, springt dort gleich auf den vierten Platz. 2017 wird er in der 4 x 100-m-Staffel sogar Weltmeister – in einem Team mit Markus Rehm. 2019 folgt der WM-Titel im Weitsprung.
Es soll nur eine Etappe bleiben auf einem Weg, auf dem ihn auch die DFL Stiftung gefördert hat, die seit 2009 als Premium-Partner der Deutschen Sporthilfe Talente aus mehr als 50 olympischen Sportarten unterstützt. Seit 2016 widmet sie sich als exklusiver Partner der Nachwuchselite-Förderung auch Akteuren des Para- und Gehörlosen-Sports. „Diese Unterstützung ist Gold wert“, sagt Weitspringer Schäfer, der drei Jahre Teil des Programms war. Die Unterstützung sei gerade in jungen Jahren wichtig, um sich auf den Sport konzentrieren und Erfolge ansteuern zu können.
Léon Schäfers nächste Station heißt Tokio. Dort strebt er Gold an, will die Ernte für seine durch die Corona-Pandemie und Verletzungen erschwerte Vorbereitung einfahren. Eine Entzündung des Beinstumpfes machte ihm zu schaffen, zwang ihn, von den üblichen neun Trainingseinheiten pro Woche auf nur noch sechs zu reduzieren.
Sein Fokus hat sich indes längst über den Sport hinaus geweitet. Er liest viel, führt Tagebuch, reflektiert. Mit dem Knochenkrebs und der Amputation hadert er nicht. Auch weil er weiß: Wenn es gelungen wäre, sein geschädigtes Bein zu erhalten, wäre es heute weniger flexibel und belastbar. Hinzu kommen eindrucksvolle Erlebnisse, durch die er dankbar auf sein eigenes Leben blickt. „In Rio de Janeiro habe ich Behinderungen gesehen, die grausam waren“, sagt er. „Man vergisst schnell, wie gesegnet man ist.“

Sport ist mein Leben und gibt mir Freiheit. “
MERLE MENJE
Tief beeindruckt hat ihn auch das Engagement seines Freundes und Mentors Heinrich Popow. Der Paralympicssieger im Weitsprung und über 100 Meter zeigt mit dem Projekt „Running Clinics“ des Prothesenherstellers Ottobock weltweit amputierten Menschen, welche Möglichkeiten sich für sie durch das Tragen von Sportprothesen eröffnen. Auch Schäfer, dessen Wettkampfprothese etwa 10.000 Euro kostet, engagiert sich für das Projekt. Wie Popow findet er es wichtig, dass Menschen nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Behinderung regelmäßig Sport treiben. Dass diesem Rat noch zu wenige folgen, zeigt der dritte Teilhabebericht der Bundesregierung. Demzufolge treibt hierzulande nicht einmal die Hälfte der Menschen mit Behinderung Sport, während 68 Prozent der Menschen ohne Behinderung aktiv sind.
Damit sich das ändert, braucht es mehr Aufmerksamkeit – und Vorbilder, wie Markus Rehm eines für Léon Schäfer war. Zahlreiche Para-Sportarten sind vielen noch unbekannt und ohne prominente Galionsfigur. DFL Stiftung und Sporthilfe planen daher, den Supercup zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern München am 17. August zu nutzen, um paralympische Talente ins Blickfeld zu rücken. Der Deutsche Behindertensportverband wirbt zudem mit Spots für die Paralympics und motiviert auf parasport.de zum Einstieg in den paralympischen Sport.
Optimistisch stimmt der Nachwuchs. Im Rennrollstuhlsport schickt sich die erst 16- jährige Merle Menje schon zu Beginn ihrer Karriere an, die Etablierten ihrer Sportart zu überflügeln. Sie geht noch zur Schule, möchte bald ihr Abitur machen und studieren. Seit 2019 wird sie auf ihrem Weg, der ihr viel Disziplin abverlangt, von der DFL Stiftung unterstützt. „Sport ist mein Leben und gibt mir Freiheit“, sagt sie mit Begeisterung in den Augen und lässt ihren Antrieb auch die Konkurrenz immer häufiger spüren.
Merle Menje ist die Meisterin fast aller Klassen. Über fünf Distanzen ist sie Deutschlands Beste. Im Winter, wenn die Witterung das Training erschwert, wechselt die von Geburt an querschnittsgelähmte Athletin zwar das Sportgerät, nicht aber den sportlichen Anspruch: Sie zählt zur Nationalmannschaft im Skilanglauf. Ein Schlitten und zwei Stöcke sind dann ihre Ausrüstung. „Rollstuhl und Schnee vertragen sich nicht so gut“, scherzt sie.

Wir arbeiten genauso hart und sind genauso stolz, in Tokio für Deutschland an den Start gehen zu dürfen, wie die olympischen Athletinnen und Athleten.“
LÉON SCHÄFER
Doch zunächst krönte sie sich im Juni im polnischen Bydgoszcz zur zweifachen Europameisterin, im Juli wurde sie für die Paralympics in Tokio nominiert. Keine Überraschung also, dass sie das Internationale Paralympische Komitee bereits „German Wunderkind“ nennt, eine Bezeichnung, die bislang nur Basketball-Legende Dirk Nowitzki zuteilwurde. Zu großer Druck für eine 16-Jährige? Fehlanzeige! Sie sehe Chancen, keine Risiken. Und sie hat Pläne. Botschafterin für mehr Gleichberechtigung im Sport will sie sein. „Die Leistungen von Menschen mit und ohne Behinderung sollten in gleicher Weise geschätzt werden“, sagt sie.
Dafür setzt sich auch Léon Schäfer ein. Der Para-Sport müsse die Anerkennung erhalten, die er verdient, findet er: „Wir arbeiten genauso hart und sind genauso stolz, in Tokio für Deutschland an den Start gehen zu dürfen, wie die olympischen Athletinnen und Athleten.“
Mit sich selbst hat er nach dem vierten Platz von Rio 2016 noch eine Rechnung offen. Und für alle anderen, ob mit oder ohne Behinderung, hat er eine klare Botschaft: „Ihr könnt alles erreichen. Es hängt an euch! Der Himmel ist die Grenze.“
DER AUTOR Maximilian Türck ist Leiter Spitzensport und Publikationen bei der DFL Stiftung.