
Training für Trainer
Mit einer Lizenz des DFB hört die Ausbildung nicht auf. Bayer 04 Leverkusen unterhält eine Akademie, um die Trainer aus dem eigenen Nachwuchsbereich immer auf den neuesten Stand zu bringen. Auch in Workshops lernen sie, Talenten die spezielle Spielidee des Clubs zu vermitteln.
Text Jörg Kramer
Fotos Jörg Schüler

Der aktuelle Cheftrainer, Gerardo Seoane, kommt aus der Schweiz. Vorgänger war mit Peter Bosz ein Niederländer. Und irgendwann kommt der Trainer der „Werkself“ vielleicht sogar von Bayer 04 Leverkusen – aus dem eigenen Club.
Das ist nicht völlig ausgeschlossen, schließlich unterhalten die Leverkusener eine Trainerakademie, eine Einrichtung zur Aus- und Weiterbildung vereinseigener Nachwuchstrainer. Ihr Zweck ist die Schulung nach besonderen Prinzipien, die alle Trainer in die Lage versetzen sollen, dem Nachwuchs von klein auf die Spielidee des Clubs beizubringen – mit selbst entwickelten Methoden und Übungsformen. Eine Trainerschule also, über die DFB-Qualifizierung hinaus. „Topjugendtrainer für unsere Jugendspieler“ sollen ausgebildet werden, das ist das vorrangige Ziel, erklärt Sportdirektor Simon Rolfes, treibende Kraft hinter diesem Konzept. Wenn es funktioniert, werden die Jugendlichen besser und schneller an die Spielart der Profimannschaft herangeführt, beherrschen nach Abschluss der Lehrjahre also schon den Bayer-04-Fußball, und im Idealfall schaffen mehr von ihnen den Sprung zu den Leverkusener Profis, in die Bundesliga. Doch wenn über diesen Weg auch gleich noch der eine oder andere Coach an die Trainerbank der Lizenzmannschaft herangeführt wird, warum nicht? „Vielleicht passiert das mal“, sagt Rolfes.
Wie es zu der Idee dieser clubeigenen Trainerausbildung kam, kann Rolfes, der designierte Nachfolger Rudi Völlers auf dem Posten des Sport-Geschäftsführers, einfach erklären. Bei strategischen Überlegungen sei man zu dem Schluss gekommen: „Teil unserer DNA ist es, junge Spieler zu entwickeln.“ Und wenn das so sei, müsse man sie gut betreuen. Für gute Betreuung brauche man gute Trainer, die immer up to date sind und konsistent in allen Mannschaften nach der Spielvorstellung des Clubs unterrichten. Dabei wolle man „ein führender Verein sein, nicht nur auf Trends aufspringen“, sagt Rolfes. Da lag der Gedanke an eine eigene Einheit namens Trainerakademie nahe. Im Sommer 2020, als der Spielbetrieb ruhte, wurde sie gegründet. Im März 2021 bekam sie eine neue Leitung sowie Strukturen. Seither nimmt sie immer mehr Gestalt an.
Einer der Ideengeber war ein Mann, den Rolfes, selbst im Jahr 2018 als Leiter Jugend und Entwicklung ins Leverkusener Management eingestiegen, 2019 als externen Berater bei Bayer 04 ins Boot geholt hatte: der Däne Keld Bordinggaard, ehemaliger Profi und Nationalspieler. Er ist seit gut 20 Jahren im Trainerbereich tätig, und als die Frage anstand, wie man die Leitung dieser Trainerschule optimal besetzen sollte, da „lag es auf der Hand, ihn zu fragen“, sagt Rolfes. Bordinggaard (59) ist inzwischen an den Rhein gezogen.
Ihm zur Seite steht der Spanier Ismael Camenforte López, ein Experte für Trainingsmethodik. Nichts gegen deutsche Trainer und Ausbilder, sagt Rolfes, aber eine Inspiration von außen sei gewollt. In vielen Mannschaften der spanischen LaLiga zum Beispiel sah er immer viele junge Spanier mitspielen, ausgebildet in clubeigenen Jugendteams. Das müsse einen Grund haben: „Vielleicht kann man da etwas lernen.“ Für den gesamten Nachwuchs inklusive Leistungszentrum und aller U-Mannschaften ist Thomas Eichin verantwortlich. Der ehemalige Bundesliga-Profi (180 Spiele für Borussia Mönchengladbach) soll zudem die weitere Entwicklung der Trainerakademie vorantreiben.
Welche Prinzipien das seien, nach denen in Leverkusen trainiert und gespielt werden soll? Sportdirektor Rolfes zählt aus dem Stand auf: „Immer bereit, den Ball haben zu wollen. Nach vorn spielen, zielstrebig, offensiv, technisch gut und mit Spielintelligenz.“ Es dürfe auch mal ein Konter sein, aber „vom Grundsatz“ her sei viel Ballbesitz geboten. Dies sei kein Selbstzweck, auch keine Ideologie. „Sondern wir glauben, dass wir damit die höchste Wahrscheinlichkeit auf Erfolg haben“, sagt Rolfes. Und zwar „auch in der Ausbildung unserer Spieler. Es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass wir Profispieler ausbilden. Denn wenn unsere Spieler in der Jugend häufiger den Ball haben als der Gegner, werden sie wahrscheinlich eher bessere Techniker, als wenn überwiegend der Gegner den Ball hat.“ Das leuchtet ein.

Bordinggaard trägt den Titel Head of Coaching. Er sagt: „Wir wollen den Trainern dabei helfen, den Spielern besser helfen zu können.“ In ähnlicher Funktion arbeitete er zuvor schon beim dänischen Club Vejle BK. Simon Rolfes kennt ihn seit dem gemeinsamen UEFA-Managementstudium für Profispieler, das beide 2017 mit dem Executive Master for International Players (MIP) abschlossen. Sie lernten sich schätzen. Der Jütländer Bordinggaard hatte Vejle BK auch als Trainer betreut und als Assistent von Chef Morten Olsen die dänische Nationalmannschaft. Er wurde als Spieler mit Silkeborg IF im Jahr 1994 Dänischer Meister und war fünf Jahre lang Dänemarks U21-Coach. In Deutschland war er in der Saison 2014/15 an der Seite von Chefcoach Kasper Hjulmand für den 1. FSV Mainz 05 tätig.
Sein Einstieg in den Fußball war durchaus ungewöhnlich. Aufgewachsen in Odense und ursprünglich Handballer, trat er erst mit 16 Jahren in einen größeren Fußballclub ein: Odense BK. Zwei Jahre nach dem ersten offiziellen Spiel mit den Junioren feierte er sein Debüt in der A-Nationalmannschaft. Er sei halt Straßenfußballer gewesen, und den Straßenfußball müsse man heute auch wieder mehr in die Proficlubs bringen, sagt er.
Von Dänen lernen, heißt das Siegen lernen? Landsmann Bo Svensson brachte die Profis des 1. FSV Mainz 05 auf Trab, Dänemarks Nationalmannschaft marschierte ins EM-Halbfinale, der Standard-Experte Mads Buttgereit unterrichtet deutsche Nationalspieler im Verhalten bei Eckbällen und Freistößen. Keld Bordinggaard kennt für das angehäufte Fußballwissen im Nachbarland einen Grund: „Wir sind ja nicht viele Einwohner, deswegen müssen wir jedes Talent wirklich optimieren. Die Auswahl an Spielern ist nicht so groß.“

Deswegen gebe es auch interessante Fachzirkel unter Landsleuten, in denen viel über Fußball diskutiert wird. Bordinggaard gehörte einem „Expertenkreis“ mit Hjulmand, Olsen, Thomas Frank, der den FC Brentford in die Premier League führte, und Johan Lange, heute Sportdirektor bei Aston Villa, an. Persönlichkeiten, sagt Bordinggaard, „die das Spiel wirklich passioniert studiert haben. Der Alltag im Austausch mit diesen Kollegen war für mich der beste Lehrer.“
Jetzt hat er sein Büro im dritten Stock der BayArena, kann von dort die Trainingsplätze überblicken. Oft ist er beim Training der U19 und U17 dabei, nachmittags fährt er zum Leistungszentrum Kurtekotten, im Süden Leverkusens gelegen. Ismael Camenforte López, der den fußballathletischen Bereich im Nachwuchs von Bayer 04 seit Sommer 2021 führt, ist dann oft schon da, er plant die Übungseinheiten mit den Trainern. „Sie brauchen diese Inspirationen“, sagt Bordinggaard. Nach rund sechs Wochen, in denen er die Spiele und Trainingseinheiten zu analysieren begann, habe er gemerkt, dass ein weiterer Fachmann gebraucht wurde, der die Abläufe mit organisiert.
Dienstags gibt es einen Jour fixe mit sämtlichen Coaches der zehn Jugendmannschaften. Mit den Athletiktrainern kommen da rund 30 Personen zusammen, manchmal sind auch die Analysten dabei. Grundsätzlich wird jedes Training aufgezeichnet und ausgewertet. Es gibt Workshops, drei bis vier Stunden zu einzelnen Spezialgebieten in Theorie und Praxis. Sie haben in Leverkusen eigens eine Akademiemannschaft gegründet, ein Team aus U16- und U15-Talenten, das Trainingsspiele absolviert und den Trainern zu Lehrzwecken zur Verfügung steht. Ein Exerzierfeld zur Veranschaulichung von Unterrichtsthemen.
Eines zum Beispiel ist das Einstudieren des Positionsspiels. Wenn das Ziel sei, dass mit und ohne Ball das Spiel dominiert und gleichzeitig intensiv geführt wird, dann könne es mal passieren, dass ein Trainer das nicht auf Anhieb auf den Rasen bekommt, erklärt Bordinggaard. Der Fehler liege oft in der Feldbesetzung: „Weil sich die Spieler im Aufbauspiel nicht richtig positionieren“, sagt der Lehrer der Trainer. Denn wo genau die Akteure stehen oder hinlaufen und sich als Anspieloption präsentieren, das entscheide oft über das Tempo des Spiels. Und wo genau sie sich bei eigenem Angriff positionieren, das habe Einfluss darauf, wie schnell man den Ball zurückerobert, wenn der zwischendurch verloren geht. Das alles könne man trainieren.

Anderes Unterrichtsthema: die Entscheidungsfindung der Spieler. Bordinggaard wirbt dafür, das Treffen richtiger Entscheidungen früher zu trainieren. Sowohl in der Entwicklung, aber auch in der einzelnen Übungseinheit. In engen Räumen unter Druck immer mehr entscheiden – das hätten beispielsweise junge Spanier und Portugiesen „von der ersten Sekunde an“ in ihr Training integriert. Und integrativ zu arbeiten, das sei auch hierzulande das Gebot. Spielintelligenz, Technik, alles gehöre stets zusammen: „Wir müssen spielnahe Übungen erstellen, die auch Athletik und Fußballtraining zusammenbringen.“
Der frühere Handballer Bordinggaard meint sogar: Kinder müssten mehrere Sportarten betreiben. Fußball sei so komplex geworden, „traditionelles Fußballtraining reicht nicht mehr“. Noch eine Erkenntnis: Man brauche zwar immer mal Spezialisten: „Aber ich sehe auch, dass Spieler heute mehrere Positionen gleichzeitig spielen müssen. Der Innenverteidiger – mitunter gar der Torwart – baut das Spiel auf. Der Außenverteidiger rückt auf die Sechs, der Flügelstürmer zieht nach innen.“ Das bedeute, Universalspieler seien gefragt: „Daran müssen wir auch unser Training anpassen.“
Und übermorgen kann schon wieder alles anders sein. „Der Fußball verändert sich schnell“, weiß Leverkusens Head of Coaching, „also muss man sich immer weiterentwickeln. Da müssen wir als Club Verantwortung übernehmen.“
Keld Bordinggaard hat eine Saison in Griechenland gespielt, ein Jahr Hallen-Soccer in den USA; er hat als selbstständiger Consultant den finnischen Fußballverband strategisch beraten. Was ihm im Vergleich vieler unterschiedlicher Fußballkulturen auffiel, ist, dass eine zu sehr auf Intensität und Zweikampfstärke fokussierte Ausbildung nicht länger zielführend sei. Die Tugenden seien wichtig, machten aber nicht mehr den Unterschied aus zwischen Gewinnern und Verlierern. Heute seien alle fit und zweikampfstark, das sei die Voraussetzung, um überhaupt mithalten zu können. Aber entscheidend für Sieg oder Niederlage? Dafür seien heute der Umgang mit dem Ball, die richtige Positionierung, die Entscheidungsfindung maßgeblich. Ein Beispiel: „Wir haben jetzt hier das Kopfballduell gewonnen, schön, aber wer hat jetzt den Ball? Der Gegner, denn er war besser positioniert. Er hat den sogenannten zweiten Ball bekommen.“

Auch die bloße Technik gebe nicht mehr den Ausschlag, auch sie sei Voraussetzung geworden – dafür, dass ein Spieler nicht mehr ständig auf den Ball gucken muss, sondern die Umgebung scannen, Entscheidungen vorbereiten kann. Keld Bordinggaard unterscheidet dabei zwischen guten Spielern, die ihre Aufgaben auf ihrer Position lösen, und besseren – die lösen selbstständig Spielsituationen auf. Und dann gebe es die Besten, „die diktieren das Spiel“. Er nennt Kai Havertz, den Ex-Leverkusener, und Florian Wirtz, den aktuellen Bayer-Spielmacher. Die könnten das. Auch Abwehrspieler prägen manchmal das Aufbauspiel.
Bordinggaard hat 2002 das Finale der UEFA Champions League im Glasgower Hampden Park gesehen, Leverkusens 1:2 gegen Real Madrid, er war als Experte für das dänische Fernsehen dort. Er sah Michael Ballack, Bernd Schneider, Lúcio. Und er sagt, dass er mit Bayer 04 immer kreative Fußballer verbunden habe. Das bestimme die Philosophie des Clubs und auch den Spielstil. Und der Spielstil diktiere das dafür nötige Training.
Simon Rolfes glaubt, dass dieses Jugendtraining attraktiv für Nachwuchsspieler ist. „Nicht für jeden Spieler sind wir der passende Verein. Aber für manche Spieler genau der richtige“, sagt der Ehrenspielführer des Clubs. Und wann kommt nun der erste Leverkusener Bundesliga-Chefcoach aus der eigenen Trainerakademie? Fachlich „werden wir unsere Trainer auf dieses Niveau entwickeln. Davon sind wir überzeugt“, meint Rolfes.
Aber in der Öffentlichkeit zu arbeiten, einen größeren Stab zu managen, dies seien noch einmal zusätzliche Anforderungen: „eine Hausnummer“. Doch vielleicht habe ja mal einer der Akademieschüler auch diese Talente.
DER AUTOR Jörg Kramer hat unter anderem für die »Süddeutsche Zeitung«, den »SPIEGEL« und die »ZEIT« über Fußball geschrieben. Aktuell arbeitet er wieder als freier Autor. Im DFL MAGAZIN widmet er sich Hintergründen und Trends des Profifußballs.