

«Im Rückblick ist es oft viel leichter zu sehen, wie sich jeder Umstand zu einem ‹Freudenprivileg› entwickelt hat.»
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER
Dann und wann beschleicht mich die Angst, an Gott zu zweifeln, wenn es mal ganz dicke kommt. Jeder wird im Alltag mit Biografien konfrontiert – auch beim Bibellesen –, wo Menschen von Gott «den bitteren Kelch, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand», gereicht bekommen, wie Bonhoeffer schreibt. Vielleicht halten auch Sie ihn in der Hand und fragen sich: Weshalb mutet Gott mir das zu? Hat er es etwa verpasst, auf mich achtzugeben und diesen unsäglichen Schmerz von mir fernzuhalten? Liebt er mich nicht mehr? Oder habe ich mir die Existenz meines Schöpfers, eines persönlichen, liebenden Gottes nur eingeredet? Kennen Sie dieses Flüstern des Teufels an Ihrem Ohr?
Gott in frohen Zeiten zu loben und ihm für das Gute zu danken, fällt mir nicht schwer. Aber wie schnell gewöhnt man sich an die unzähligen Wohltaten! Für viele bedeutet Segen: Liebt mich Gott, dann hält er Schlimmes von mir fern. Reich gesegnet heisst dann, überschüttet zu werden mit materiellen Dingen, mit glücklichen Fügungen und problemlosen Umständen. Ist das so?
Als ich gestern in den Verlag kam, lag eine Neuerscheinung auf meinem Schreibtisch: Die Entdeckung der Freude – trotz allem von Helen Roseveare (CV Verlag). Abends las ich das Büchlein. Es hat mich von der ersten Seite an gefesselt und nachhaltig berührt. Mit einigen Zitaten daraus möchte ich Sie teilhaben lassen am Leben dieser aussergewöhnlichen Frau.
Die Ärztin und Missionarin – sie ist 2016 heimgegangen – war im Kongo am Aufbau von 48 Kliniken beteiligt. Viele dieser medizinischen Einrichtungen wurden nach Ausbruch des Bürgerkriegs 1964 zerstört. Bei den politischen Unruhen kamen Tausende Menschen um, auch vier Mitarbeiter. Zusammen mit anderen Missionaren war Helen fünf Monate lang in Gefangenschaft und erlebte das Trauma von Misshandlung und Vergewaltigung, doch sie hatte eine so tiefe Erfahrung von Gottes Liebe und Trost, dass sie später sagen konnte: «Plötzlich wusste ich, wusste ich wirklich, dass seine Liebe unaussprechlich genügt.»
«Wandelt nur würdig des Evangeliums des Christus, ... dass ihr fest steht in einem Geist und mit einer Seele zusammen für den Glauben des Evangeliums kämpft und euch nicht von den Widersachern erschrecken lasst, was für sie ein Beweis des Verderbens ist, aber eures Heils, und das von Gott her! Denn euch ist es im Blick auf Christus geschenkt worden, nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden» (Phil. 1,27–29).
Bei Helen Rosevears Trauerfeier hielt Louis Sutton, der internationale Direktor des WEC (weltweiter Einsatz für Christus), die Ansprache: «... Ihr Leben lang sprach Helen von dem Privileg, Jesus zu dienen; Missionarin und Ärztin zu sein, denen das Evangelium von Jesus zu bringen, die die gute Nachricht noch nie gehört hatten. Doch das Wort ‹Privileg› hatte für sie noch eine tiefere Bedeutung. Auch inmitten von Leid und Schmerz sprach sie von einem Privileg – nämlich dem, an den Leiden Jesu teilzuhaben. In ihren schmerzvollsten Erfahrungen, so erzählte sie, begegnete ihr der Herr: ‹Inmitten dieser Finsternis und Einsamkeit, war er, Jesus, mir nahe ... In seiner Liebe gab er meinem bekümmerten Geist ein Wort ein. Das Wort ‹Privileg›. Er nahm den Schmerz nicht weg, nicht die Gewalt oder die Demütigung. Nein! Es war alles da. Aber es war vollkommen anders. Es war mit ihm, für ihn, in ihm. Es war ein Privileg.›»
Weiter schreibt sie in ihrem Buch: «Wir haben Angst, beim Lesen der Bibel etwas zu finden, was vielleicht besonders schwer zu halten wäre. So rüttelte mich die Anweisung im Jakobusbrief auf: ‹Haltet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Versuchungen geratet› (1,2). Hatte ich wirklich richtig gelesen? War das nicht ein bisschen zu viel verlangt? Die schweren Momente als Teil von Gottes Willen anzunehmen, ja, das mag in Ordnung sein, aber ‹es für lauter Freude zu halten› – so weit war ich noch nicht.
So fing ich an, mir darüber Gedanken zu machen. ‹Chará›, das griechische Wort für ‹Freude›, wird auch in Hebräer 12,2 verwendet: ‹Jesus, der um der vor ihm liegenden Freude willen die Schande nicht achtete und das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.›
Mir kam der Abend in den Sinn, an dem ich zum ersten Mal das Evangelium hörte – dass Jesus, Gottes einziger Sohn, für mich am Kreuz gestorben ist. Dass er die Strafe für all mein Versagen, all meine Sündhaftigkeit auf sich nahm und den vollen Preis dafür bezahlte, den der heilige Gott verlangte, sodass ich Vergebung bekam, wiederhergestellt und in Gottes Familie aufgenommen wurde. Ich trat in Gottes erstaunliche und überwältigende Liebe ein.
Am selben Abend bekam ich eine Bibel geschenkt. Dr. Graham Scroggie schrieb einen Vers für mich hinein: ‹... Christus möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden› (Phil. 3,10). Er sagte zu mir: ‹Heute Abend haben Sie damit begonnen, ihn zu erkennen. Ich bete für Sie, dass Sie immer mehr von der Kraft seiner Auferstehung erleben.› Dann schaute er mich direkt an und fuhr fort: ‹Vielleicht wird Ihnen der Herr eines Tages das Privileg geben, an seinen Leiden teilzuhaben.›
Ich war gerade eine halbe Stunde Christ und bekam gesagt, dass es ein Privileg sei, mit ihm und für ihn zu leiden! Und doch ... ja! Das ist das Fundament meines Christseins geworden. Meine Antwort auf seine Gnade muss sein, dass mir das Privileg bewusst ist, egal, was geschieht.
Römer 8,28 kenne ich seit Jahren. Ich habe Vorträge darüber gehalten und andere aufgefordert, diese wunderbare Wahrheit anzunehmen und zu glauben: ‹Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach seinem Vorsatz berufen sind.› Doch plötzlich sah ich sie aus einer anderen Perspektive. Mit anderen Worten sagte Gott zu mir: In meinem Vertrauen zu ihm und in meinem Leben in ihm und für ihn kann ich sicher wissen, dass nichts durch Zufall oder aus Versehen mein Leben berührt (Die gleiche Erfahrung machte das Ehepaar Klaus, das seine kleine Tochter verlor. Lesen Sie dazu das Interview ab Seite 10). Gott ist Herr der Lage und in der Erfüllung seines Willens – in einem grösseren Bild, als ich es sehen kann – ist alles Grosse und Kleine, das mir widerfährt, Teil seiner Absichten. Das ist äusserst erstaunlich!
Ich schaue nun auf 70 Jahre zurück, in denen ich Jesus geliebt und ihm gedient habe. Im Rückblick ist es oft viel leichter zu sehen, wie sich jeder Umstand zu einem ‹Freudenprivileg› entwickelt hat. Aber ich bin sicher, dass wir beim Wachsen in der Gnade immer mehr dahin kommen, diese ungeheure Wahrheit täglich anzunehmen und zu verstehen, und das nicht erst auf einen späteren Rückblick verschieben oder darauf warten zu müssen.»
Ja, davon bin auch ich von ganzem Herzen überzeugt – es ist Gnade, nicht meine Stärke, mit Sicherheit auf alle Zeiten vom Allmächtigen gehalten zu sein! Gottes Liebe ist real und verlässlich. «... Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht rechnet mit Strafe ...» (1. Joh. 4,18).
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Zeit und viel Ermutigung durch die verschiedenen Artikel dieser Ausgabe.
Herzlich, Ihre
