
WO BLEIBT NUR PAPA?

Aufgeregt späht Anuk in die Ferne. Sie hat Hundegebell gehört und ist zusammen mit ihren Eltern vors Iglu gelaufen. Richtig, da kommt der Schlitten des Missionars! Wie sehnsüchtig haben sie auf ihn gewartet! In einem grossen Bogen lenkt er das Gespann so, dass es direkt vor dem Iglu der Familie zum Stehen kommt, springt dann mit einem Satz vom Schlitten und begrüsst sie freudig. Kashu, der Familienhund, rennt laut bellend um die Gruppe herum. Wie viel gibt es zu erzählen!
Bald sitzen alle im Schneehaus und geniessen den leckeren Karibu-Eintopf, den Anuks Mama vorbereitet hat. Danach hängen sie wie gebannt an den Lippen ihres Besuchers, begierig auf alle Neuigkeiten, die er zu erzählen hat.
Plötzlich zieht der Mann etwas aus der Tasche und gibt es Anuk: «Für meine kleine Freundin!», sagt er augenzwinkernd. Es ist eine kleine Stoffpuppe. Überglücklich verzieht sich Anuk in eine Ecke des Iglus. Eine eigene Puppe! Und sogar mit Haaren! Sie ist so beschäftigt, das kleine Wunder zu betrachten, dass sie kaum zuhört, über was die Erwachsenen reden. Wie bei jedem seiner Besuche erzählt der Missionar der Familie von Gott, dem himmlischen Vater. Er bringt ihnen auch ein Gebet bei, das auf eine Karte gedruckt ist: «Unser Vater, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name ...» Anuk spricht die Worte zwar mit, aber ihre Gedanken sind doch ganz bei dem kleinen Stoffpüppchen in ihren Armen.
Viel zu schnell vergeht die Zeit. Der Missionar muss aufbrechen, denn er will noch vor Einbruch der Dunkelheit die nächste Siedlung erreichen, wo er zum Predigen eingeladen ist.
«Ich begleite dich noch ein Stück und zeige dir den schnellsten Weg», bietet Anuks Vater an, der ein erfahrener Jäger ist und sich in der Eiswüste bestens auskennt. Er spannt die Hunde vor seinen Schlitten und fährt dem weissen Mann voraus. Anuk und ihre Mama stehen Arm in Arm und winken, bis die beiden Schlitten am Horizont verschwunden sind.
Plötzlich vernehmen sie erneut Hundegebell. Nanu, wo kommt das denn her? Von der anderen Seite nähert sich in schneller Fahrt ein Schlitten. Es ist Tinko, ein guter Bekannter, der mit seiner Familie nur wenige Kilometer entfernt wohnt. Aufgeregt winkt er und ruft: «Nana, kannst du schnell kommen? Meiner Frau geht es nicht gut. Das Baby kommt, aber es gibt Probleme bei der Geburt. Wir brauchen Hilfe!»
Anuks Mama überlegt nicht lange. Sie eilt ins Iglu und packt ein paar Sachen zusammen. Dann hockt sie sich vor ihrem Töchterchen auf den Boden und erklärt: «Anuk, meine Freundin braucht mich jetzt. Du bleibst hier. Eine Geburt kann lange dauern und ich kann dabei nicht auch noch auf ein kleines Mädchen aufpassen. Papa wird ja gleich zurück sein. Zum Abendessen könnt ihr den Rest von heute Mittag essen. Kashu passt auf dich auf. Mach’s gut!» Sie gibt ihrer Tochter noch einen Kuss auf die Nasenspitze und steigt dann zu Tinko in den Schlitten, der schon ungeduldig wartet. Kashu setzt sich neben Anuk in den Schnee und bellt kurz, so als hätte er genau verstanden, was die Mutter gesagt hat. Anuk winkt dem Schlitten fröhlich nach. Sie hat ihre Puppe, ihren Hund Kashu und gleich würde Papa zurückkehren. So gibt es keinen Grund, sich Sorgen zu machen!

Die Stunden vergehen. Doch so sehr Anuk auch in die Richtung späht, in die ihr Vater und der Missionar gefahren sind, sie sieht keinen Schlitten zurückkommen. Wo bleibt Papa nur? So lange ist sie noch nie allein gewesen. Langsam meldet sich der Hunger. Da ist doch noch der Eintopf vom Mittagessen!
Als Anuk durch den niedrigen Eingang ins Iglu kriecht, fällt ihr Blick auf die Karte, die der Missionar dagelassen hat. Sie kann noch nicht lesen, aber sie weiss auch so, welche Worte draufstehen. Es ist das Vaterunser, das der weisse Mann ihnen beigebracht hat. «Unser Vater, der du bist im Himmel ...» – «Was bedeutet das eigentlich?», fragt sich Anuk. Heute Morgen hat sie die Worte nur so nachgesprochen, aber jetzt denkt sie über sie nach. Durch den Eingang des Schneehauses betrachtet sie den Himmel, der sich langsam dunkel färbt und an dem die ersten Sterne aufleuchten. Ihr richtiger Vater kann immer nur an einem Ort sein und jetzt ist er weg. Aber es gibt ja noch den himmlischen Vater. Der Himmel ist überall und so muss dieser Vater auch überall sein. «Also bin ich jetzt nicht alleine hier, Gott ist bei mir!», wird es Anuk plötzlich klar. Ein tiefer Friede zieht in das Herz des kleinen Mädchens ein.

Sie isst den Rest Suppe, gibt Kashu einen Fisch zum Abendbrot und kuschelt sich in eines der Felle auf der Bettstelle. Dann nimmt sie ihre Puppe in den Arm und legt die Karte neben sich. «Mein Vater im Himmel», flüstert Anuk, «ich weiss, dass du da bist und mich siehst. Bitte, sei bei Mama und gib, dass das Baby gut zur Welt kommt. Bewahre Papa, wo immer er ist. Und lass mich jetzt gut schlafen. Amen.»
Kurze Zeit später kehrt der Jäger zurück und stellt überrascht fest, dass sich seine schlafende Tochter allein im Iglu befindet. Er zündet die Lampe an, erwärmt die restliche Suppe und weckt Anuk dann sanft.
Verschlafen richtet sie sich auf und erzählt: «Mama ist weggefahren. Sie brauchen Hilfe mit dem Baby. Und ich dachte, dass du gleich wieder zurückkehrst. Aber du bist nicht gekommen!»
Plötzlich beginnt sie zu weinen. Ihr Vater nimmt sie fest in den Arm. «Das tut mir leid, mein Schatz. Ich wusste ja nicht, dass du allein bist; ich dachte, Mutter wäre bei dir. Ich habe unseren Gast doch noch bis an sein Ziel gebracht und mir dann noch seine Predigt angehört.»
Da erblickt er die Karte neben Anuk. «Hast du sie dir angeschaut?»
Anuk nickt: «Ja. Da steht ja: ‹Unser Vater, der du bist im Himmel›. Da habe ich gedacht, dass mein Vater im Himmel auch dann bei mir ist, wenn du nicht da bist.» Tapfer wischt sie sich eine Träne von der Wange.

Ihr Vater lächelt und zieht sie noch fester an sich. «Gott weiss, dass kleine Mädchen einen Vater auf der Erde brauchen. Aber wenn der mal nicht da ist, darfst du wissen: Dein Vater im Himmel ist immer bei dir! Komm, und jetzt iss noch etwas.»
Anuk fühlt, wie die heisse Suppe sie erwärmt. Sie sieht auf das liebe Gesicht ihres Vaters, das im Schein der Öllampe glänzt. Und sie betrachtet die Sterne, die draussen am Nachthimmel funkeln.
«Einen Vater auf der Erde und einen im Himmel. Wie gut geht es mir doch!», denkt sie glücklich.
Text: Elisabeth Weise Illustrationen: Donatella Veneziani