

EDITORIAL
Liebe Leserin, lieber Leser
Stolz und Stärke lehnen Gnade ab, Demut und Schwachheit suchen sie. Nur wo Ritzen und Löcher sind, kann Licht eindringen. Vor Gott bin ich schuldig, ein Sünder. Ich vermag ihm weder zu gefallen, noch mich selbst zu verbessern. Dass der Heilige mich trotzdem bei sich haben will, ist Gnade. Seine Liebe erreichte mich in jenem Augenblick, in dem ich verstand, dass Jesus für mich persönlich die Qualen am Kreuz auf sich genommen hat. Schuld muss bezahlt werden. Immer. Meine Strafe lag auf Jesus, als ihm die Geissel die Haut vom Rücken riss und die Nägel sich durch seine Hände bohrten. Er liess sein Leben an meiner Stelle. Das habe ich mit nichts verdient. Es ist reine Gnade.
«Doch als die Zeit dafür gekommen war, sandte Gott seinen Sohn.»
Galater 4,4 a
Beim Lesen der Evangelien fällt auf, mit welcher Selbstverständlichkeit Jesus sich unter Sündern und an den Rand Gedrängten bewegte. Er ist gekommen, um diejenigen zu befreien, die nichts vortäuschen, und zugeben, dass sie Erlösung brauchen. Einmal lässt sich Jesus von einer heruntergekommenen Frau die Füsse küssen – zum blanken Entsetzen des Hausherrn, dem Schriftgelehrten Simon. Und ich höre Jesus, wie er den angeekelten Pharisäer (auch den Pharisäer in mir) darüber aufklärt, dass kein Mensch seine Schuld gegenüber Gott selbst bezahlen kann. «Ich bin in dein Haus gekommen, und du hast mir kein Wasser für meine Füsse gereicht; sie aber hat meine Füsse mit ihren Tränen benetzt und mit ihrem Haar getrocknet. Du hast mir keinen Kuss zur Begrüssung gegeben; sie aber hat, seit ich hier bin, nicht aufgehört, meine Füsse zu küssen. Du hast meinen Kopf nicht einmal mit gewöhnlichem Öl gesalbt, sie aber hat meine Füsse mit kostbarem Salböl gesalbt. Ich kann dir sagen, woher das kommt. Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben worden, darum hat sie mir viel Liebe erwiesen. Wem aber wenig vergeben wird, der liebt auch wenig» (Lukas 7,44 bis 48 NGÜ).
Die Treppe der Macht führt nach oben, die Treppe der Gnade führt nach unten. «Doch als die Zeit dafür gekommen war, sandte Gott seinen Sohn» (Galater 4,4 a). Christus kam vom Himmel herab zu uns. «Er, der das Wort ist, wurde ein Mensch von Fleisch und Blut und lebte unter uns. Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit, wie nur er als der einzige Sohn sie besitzt, er, der vom Vater kommt» (Johannes 1,14). Wunderkräfte heben die Naturgesetze auf, wir staunen; mächtiger aber ist die Gnade! Sie bringt Vergebung und Liebe und macht frei von Schuld und Verlorenheit, Sünde und Tod. Wenn etwas fehlt in der Welt, dann ist es Gnade. Sind unsere Herzen, unsere Häuser, unsere Gemeinden, unsere Kirchen Orte der Gnade? Wie sieht ein von Gottes Gnade berührter Mensch seinen Nächsten? «Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt» (1. Johannes 4,19).
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich von Herzen ein besinnliches und gnadenreiches Christfest!
Ihr Rolf Höneisen