

DAUERTHEMA
Einstellwinkeldifferenz (EWD) am Segelflugmodell, Teil 2
Im ersten Teil unserer EWD-Serie (vgl. FMT 06/2020, S. 116ff) haben wir die aerodynamischen Grundbegriffe rekapituliert, deren Kenntnis für das Verständnis der Einstellwinkeldifferenz erforderlich ist. Nun werden wir prüfen, ob verbreitete Empfehlungen zur Einstellung der EWD zweckmäßig sind.
DR. HORST TORUNSKI
Meine frühe Beschäftigung mit Berechnungen der (konstruktiven) EWD war in Anbetracht unglaubwürdiger Ergebnisse nicht ohne Frust. Jedoch war, wie ich später erkannte, nicht das Formelwerk schuld, sondern mein unreflektierter Glaube an „Experten“-Empfehlungen zu den Arbeitspunkten eines Segelflugmodells, die man Berechnungen von EWD und Schwerpunkt zu Grunde legen sollte.
Gern wurden (und werden noch immer) für die Einstellung eines Segelflugmodells die Arbeitspunkte bestes Gleiten (Ɛ max ) oder gar geringstes Sinken (V y min ) empfohlen. Die zugehörigen Auftriebsbeiwerte sind einfach zu ermitteln. Ich erinnere mich aber nicht, dass einer der „Ratgeber“ jemals darauf hingewiesen hätte, dass die Ergebnisse solcher Berechnungen nur in ruhender Luft von Bedeutung wären.
Unter Realbedingungen
Der Segelflugexperte Martin Simons schrieb einmal sinngemäß: (Modell-) Segelflugzeuge kurbeln entweder in der Thermik oder penetrieren (durch Gegenwind und Abwindfelder). Ich habe lange gebraucht, um die Essenz dieser wahren Worte zu verinnerlichen: Bestleistungen eines Segelflugzeuges in ruhender Luft sind nur von akademischem Interesse. Außerhalb des mit ruhender Luft gefüllten akademischen Raumes muss man fast immer schneller fliegen, wenn man nicht in einer Thermikblase kurbelt.
Bei ruhender Luft trägt ein Hang nicht. Bei Wind muss sich das Modell gegen den Wind durchsetzen können. Wenn ein Segelflugmodell auf beste Gleitzahl oder gar geringstes Sinken eingestellt ist, fliegt es schon mal rückwärts in den Wald. In Abwindfeldern muss das Modell noch schneller fliegen, um den Höhenverlust zu minimieren. Die EWD eines Segelflugmodells bei der Konstruktion auf Ɛ max oder gar V y min in ruhender Luft auszulegen, mag für Saalflugmodelle passen. Für den Hangflug taugt das nicht.
In der Ebene geht ohne Thermik auch nichts. Wenn warme Luft in einer Thermikblase aufsteigt, befindet sich umgebend der kühle Abwind. Der Druckausgleich erfolgt per Luftströmung. Die Grundeinstellung eines Modells auf Ɛ max oder V s min wäre eventuell passend, wenn es weder Gegen- noch Abwind gäbe. An guten Thermiktagen überlagert oft auch Wind aus Nordost, nicht selten ein 3er (Bft). Bestes Steigen, bei hohem Auftriebsbeiwert, ist natürlich erwünscht, wenn das Modell in der Thermikblase kurbelt. Aber es ist besser, dafür hoch zu trimmen als konstruktiv eine große EWD einzustellen, die das Zurückkommen gegen Wind vereiteln könnte. Auch in der Ebene ist eine Einstellung der EWD auf Ɛ max nur dann zu erwägen, wenn man nur bei Windstille oder schwachem Wind fliegen will. Die EWD gar auf geringstes Sinken einzustellen, passt auch in der Ebene nicht, denn das bezahlt man garantiert mit einem Absaufer im Abwindfeld.


Oft wird über die „richtige“ EWD hitzig diskutiert, ohne sich vor Augen zu führen, dass nicht allein die EWD, sondern drei Winkel den effektiven Anstellwinkel des Tragflügels und damit den Auftriebsbeiwert bestimmen: Der Nullauftriebswinkel α 0 , die Einstellwinkeldifferenz EWD und der entgegengesetzt wirkende induzierte Anstellwinkel α i .
Die Faustregeln
Alte Hasen wissen, dass für ein optimal eingestelltes Modell die richtige Kombination von Schwerpunkt und EWD zu erfliegen ist. Für den Erstflug stellen sie EWD und Schwerpunktlage (X S ) nach einer Faustregel ein. Die Feinjustierung erfliegen sie mit dem bekannten Abfangbogen-Test. Es gibt diverse Faustregeln, verbreitet sind zwei: Faustregel a): 1,5 Grad EWD und Schwerpunktlage X S = 35% Faustregel b): EWD = Profilwölbung f (%) - 1, X S = 33%
Auf Empfehlung eines alten Hasen legte ich die EWD meiner frühen Konstruktionen für den Erstflug nach Faustregel a), später nach einer eigenen Faustregel ähnlich b) fest. Faustregel b) trägt der unterschiedlichen Wölbung von Profilen Rechnung.
Um bei einer eventuell erforderlichen Korrektur der EWD konstruktive Eingriffe zu vermeiden, haben (hatten) meine Eigenkonstruktionen symmetrisch profilierte Pendel-Leitwerke, meist Pendel-V. Natürlich ist es zweckmäßig, auch bei einem Pendelleitwerk die Neutrallage möglichst parallel zur Achse des Leitwerksträgers zu konzipieren, wenn der Rumpf im schnellen Gleitflug axial = widerstandsarm angeströmt werden soll. In einem bekannten Internet-Auftritt werden Pendel-Leitwerke als eine der sieben Todsünden bezeichnet. Das ist Unfug. Wenn rechteckige Loopings, engste Highspeed-Wenden oder Scale-Zwänge nicht im Pflichtenheft für einen Eigenbau stehen, gibt es nichts, was Klappen-Leitwerke favorisiert. DS-fest ist ein korrekt angelenktes Pendel-Leitwerk allemal.
Keine meiner Eigenkonstruktionen starb beim Erstflug. Das spricht dafür, dass nach den Faustregeln eine beherrschbare Kombination von EWD und Schwerpunkt eingestellt worden war. Zwecks Leistungssteigerung waren allerdings zuweilen gröbere Korrekturen von EWD und Schwerpunkt erforderlich, um das Modell für meinen Geschmack einzustellen. Obwohl, wie der Kölner sagt: „Et hätt noch immer jot jejange“, empfand ich die Einstellung von EWD und Schwerpunkt nach Pi mal Daumen stets als unbefriedigend.

Theoretisch durchgespielt
Ich war aber neugierig, wie diese Faustregeln ein Modell bezüglich Auftriebsbeiwert und Schwerpunkt einstellen. Um die EWD-/ Schwerpunkt-Einstellung zu vergleichen, musste ein Normalmodell herhalten. Dieses theoretische Flugmodell versah ich alternativ mit neun Tragflügelprofilen, deren für weitere Überlegungen erforderlichen Kennwerte in der entsprechenden Tabelle enthalten sind. Die Profileigenschaften reichen von Hangfräse (RG12, RG14) bis Thermikschnüffler (SD7032, E66).
Berechnete Werte für EWD, c a und X D für die Arbeitspunkte Ɛ max und V y min sind blau hinterlegt und dienen nur zur Orientierung. Die Einstellung der Modelle bezüglich c a und X S per Faustregel sind in der Tabelle gelb hinterlegt. Die pink hinterlegte Schwerpunkt-Vorlage X NF -X S ist ein Maß für die Stabilität. Früher hielt man 10-20% Stabilität für erforderlich, heute 5-10%. Der Modell-Schwerpunkt N F ist abhängig von der Modellgeometrie. Seine Lage hinter der Profilnase kann in ausreichender Näherung für ungepfeilte Flächen berechnet werden mit: X NF = 25 + (L H * F H *50)/(t m * F) [%] (Flächen und Längen in jeweils gleichen Einheiten)
Schlussfolgerungen
Beide Faustregeln führen zu ähnlichen Modelleinstellungen: Vergleichsweise niedrigere Auftriebsbeiwerte bei gering gewölbten, schnellen Profilen, hohe Auftriebsbeiwerte bei höher gewölbten Thermikprofilen. Wie kann es sein, dass auch Faustregel a) das bewirkt, obwohl die Profilwölbung gar nicht berücksichtigt wird? Das erfolgt sozusagen automatisch infolge der unterschiedlichen Nullauftriebswinkel der Profile, die wesentlich von der Profilwölbung abhängig sind.
Bezüglich der c a -Auslegung liefern beide Faustregeln besser für die Praxis passende Ergebnisse als eine EWD-Einstellung mit Fokus auf Ɛ max oder gar V y min . Beim Kauf eines (Ge-braucht-) Modells ohne verlässliche Angaben zum Tragflügelprofil ist eine Faustregel zur Einstellung von EWD und Schwerpunkt vor dem Erstflug ohnehin die einzige Option, denn Berechnungen der EWD können nicht erfolgen ohne Kenntnis des Nullauftriebswinkels α 0 eines Profils.
Beiden Faustregeln gemeinsam ist eine große Vorlage des Schwerpunktes vor dem Neutralpunkt des Flugmodells. Das ist sozusagen das Angstblei, das man meist nach dem Erstflug aus der Rumpfnase herausnehmen muss. Die Schwerpunktvorlage sorgt andererseits dafür, dass die kopflastig eingestellten Modelle ausreichend beherrschbar sind, um sie unbeschädigt landen zu können. Bei Schwanzlastigkeit wäre ein Pilot weit mehr gefordert. Beiden Faustregeln kann man also bescheinigen, dass sie für die Einstellung eines Modells für den Erstflug brauchbar sind. Faustregel b) legt sich allerdings fest bezüglich der c a -Einstellung für Thermikprofile, Faustregel a) für schnelle Profile. Falls man also diese EWDs einer Konstruktion zu Grunde legt, nimmt man – je nach Einsatzziel des Modells – Leistungseinbußen in Kauf.
Was ist gewünscht?
Bevor man mit Berechnungen der EWD beginnt, muss man definieren, was das Flugmodell leisten soll. Oben bleiben bei schwacher Abendthermik und bei einem 6er (Bft) Wind den Hang polieren? Das geht nicht mit dem gleichen Modell. Was in schwacher Abendthermik der Star am Himmel ist, fliegt meist schon bei einem 3er rückwärts. Eine Hangfräse, die bei einem 6er Spaß macht, kann man im küstenfernen Inland wegen weit überwiegenden Schwachwindlagen nur selten fliegen. Ein F3B-Modell sei der optimale Kompromiss, schrieb mal jemand. Brauchbarer Vorschlag. An meinen kleinen Haushängen ist ein F3J-Schleicher oft die bessere Wahl.
Sie müssen also entscheiden, ob Sie ein Modell für seltene Wetterlagen oder den Urlaub in Hangflug-Paradiesen konstruieren wollen – oder welcher Modelltyp für Ihre Fluggewohnheiten und Fluggebiete ein guter Kompromiss ist. Das Diagramm „Fluggeschwindigkeit“ soll dabei helfen. Mit dessen Hilfe kann man entscheiden, auf welchen Auftriebsbeiwert das Modell konstruktiv eingestellt werden sollte, wenn die bekannte oder vorgesehene Flächenbelastung vorgeben wird, dazu die Windgeschwindigkeit, bis zu der das Modell bei neutraler Trimmung des Höhenleitwerks gegen Wind noch nicht rückwärts über Grund fliegen sollte. Beim Flug quer zur Windrichtung ist zusätzlich die gewünschte Vorwärtsgeschwindigkeit einzubringen.
Nehmen wir ein Beispielmodell, wie bereits vorgestellt: Die Flächenbelastung eines Segelflugmodells beträgt 4 kp/m² und das Modell soll vorwiegend bei höchstens mäßigem Wind (Bft 3) eingesetzt werden. Die Rumpfachse soll bei der höchsten Windgeschwindigkeit strömungsgünstig mit der Flugbahn übereinstimmen (Sehne des Höhenleitwerks parallel zur Rumpfachse). Wind ist meist böig, eine Zugabe von ca. 1 Bft oder 3 m/s ist dafür zweckmäßig. Im Diagramm „gehen“ wir bei G/F 4 kp/m² horizontal bis zur rechten Grenze des Feldes Bft 4 und lesen an der X-Achse 8,4 m/s ab. Quer zur Windrichtung sind wir mit gemütlichen 7 m/s zufrieden. Damit können wir die benötigte Geschwindigkeit für die Auslegung des Modells nach Pythagoras berechnen: V = (8,4 2 + 7 2 ) 0,5 ≈ 10,3 [m/s]

Im Diagramm finden wir, dass das Modell bei dieser Geschwindigkeit etwa mit dem Auftriebsbeiwert c a = 0,6 fliegt. Das ist der Auslegungs-Auftriebsbeiwert, den wir bei der Konstruktion beziehungsweise Einstellung dieses Modells bei Neutralstellung des Höhenleitwerks ansetzen. Soweit für heute. Im nächsten und letzten Teil dieser Artikelserie werden wir zeigen, wie man die EWD (anhand von Beispielen) berechnet, wie man dabei so vorgeht, dass sich die Katze sich nicht in den Schwanz beißt. Und wie man eine „App“ zur Berechnung der EWD in Excel programmiert.
