

Mit einem Bein im Studium, mit dem anderen im Schulzimmer
Leonie Dolder arbeitet in ihrem dritten Studienjahr bereits als Lehrerin und studiert gleichzeitig noch an der Pädagogischen Hochschule Bern. Ihr Studium verlängert sich zwar so, sie ist aber froh um mehr Praxisbezug und den einfacheren, begleiteten Berufseinstieg.
Die kurvenreiche Strasse auf den Belpberg (BE) zieht sich in die Länge – und ist ziemlich befahren. Hier oben, auf 800 Metern über Meer, zwischen dem Aare- und dem Gürbetal, liegt ein beliebtes Ausflugsziel für Velofahrerinnen und -fahrer. Und mitten in der kleinen Streusiedlung steht ein kleines Schulhaus. «Ich wusste gar nicht, dass es hier oben eine Schule gibt», sagt ein Biker. Diese kannte auch Leonie Dolder bis vor einem Jahr noch nicht.
«An einem Tag bin ich selber noch Schülerin, am anderen Tag komme ich hierher und muss als Lehrerin funktionieren.»
Die 25-Jährige befindet sich in der Ausbildung zur Lehrerin an der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern) und unterrichtet seit bald einem Jahr an der Zyklusschule Belpberg. Sie hat sich für den Studiengang «Studienbegleitender Berufseinstieg (SBBE)» entschieden und wechselt deshalb seit dem Sommer 2021 unter der Woche ihre Rolle. «An einem Tag bin ich selber noch Schülerin, am anderen Tag komme ich hierher und muss als Lehrerin funktionieren.» Das, sagt sie, sei eine Herausforderung. Dennoch: Sie hat sich bewusst für diesen Studiengang entschieden. «Das Studium an der PH ist recht theoretisch. Während der Coronazeit mit den vielen Onlineveranstaltungen erlebte ich das Studium aber als noch viel theoretischer, als es ohnehin schon ist. Ich wollte deshalb etwas ändern.» Sie entschloss sich darum, ihr Studium um ein Jahr zu verlängern und dafür bereits in die Praxis einzusteigen, indem sie eine Teilzeitanstellung annimmt.
Realität ist anders als Theorie
Leonie Dolder sitzt am Tisch des Lehrerzimmers, das an der Schule Belpberg in einem ehemaligen Wohnraum der früheren Lehrerwohnung untergebracht ist. Klein, übersichtlich, familiär und sehr flexibel – so fühlt sich die Zyklusschule Belpberg mit ihren beiden Klassen an. Und dies waren auch die Gründe, weshalb sich Dolder für diese Schule entschieden hat. In einer Klasse sind zudem mindestens vier Jahrgänge vertreten. Das Schulhaus hat viele Zimmer, die als Gruppenräume genutzt werden können. Dolder unterrichtet oft in Halbklassen. «Dadurch wage ich, vieles auszuprobieren. Funktioniert etwas nicht wie geplant, wirkt sich das auf eine kleine Gruppe, nicht aber auf eine ganze Klasse aus.»
Ihren Entscheid, das Studium von drei auf vier Jahre zu verlängern und in den Studiengang «Studienbegleitender Berufseinstieg» zu wechseln, bereut sie nicht. «Ich habe in der Zeit, in der ich nun hier bin, enorm viel gelernt. In der Realität reagiert man als Lehrperson oft so anders, als es die Theorie vorsieht.»
Erfolgreich sein statt überleben
Die PHBern bietet den studienbegleitenden Berufseinstieg für die Studierenden des Instituts für die Primarstufe seit 2019 an. «Forschungsresultate zeigen, dass gerade der Berufseinstieg für junge Lehrpersonen sehr belastend sein kann», sagt Irene Guidon, Studiengangsleiterin SBBE an der PHBern. «Wir wollten den Berufseinstieg mit diesem Studiengang neu andenken, um die personellen und beruflichen Ressourcen zu stärken.» Der Lehrpersonenmangel habe aber sicher auch mitgeholfen, dass das Angebot rasch initiiert worden sei.
«Sich organisieren können, flexibel und offen sein: Diese Eigenschaften brauchen Studierende, wenn sie sich für den studienbegleitenden Berufseinstieg entscheiden.»
Mitte Juni waren im Kanton Bern 279 Stellen für Lehrpersonen offen. 1500 von 15 000 Lehrpersonen arbeiten laut Angaben des Kantons zurzeit ohne entsprechendes Diplom – darunter Studierende der PH, die noch nicht die Hälfte ihres Studiums absolviert haben. Zwei Drittel der Lehrpersonen ohne Diplom sind befristet als Stellvertretungen angestellt. Eine Festanstellung haben vor allem Studierende im Masterstudiengang Sekundarstufe I: In diesem sind gemäss der PH Bern 90 Prozent bereits berufstätig. Die Einsätze der Studierenden als Stellvertretungen können auch zu Problemen führen: «Diese Unterrichtstätigkeiten sind konzeptionell nicht begleitet und können dadurch zu Überlastungen führen», sagt Irene Guidon. «Im SBBE ist eine Anstellung im Rahmen von zirka 50 Prozent vor Studienabschluss bewusst eingeplant, ebenso eine gezielte Begleitung seitens der PH und des Schulfelds. Dadurch erhoffen wir uns, dass wir Junglehrpersonen ermöglichen, langfristig erfolgreich im Beruf zu sein, statt nur zu überleben.»

Begleitung ist wichtig
Leonie Dolders Woche ist mit Arbeit und Studium ziemlich vollgepackt. Entweder ist sie an der PH oder sie unterrichtet. An ihrem freien Tag lernt sie oder bereitet den Unterricht vor. Unter diesen Umständen ihre Ressourcen zu schonen, das falle ihr manchmal noch etwas schwer, sagt sie. Und: Sie sei die einzige Lehrperson, die an der Zyklusschule Fremdsprachen unterrichte. «Da fehlt mir der Austausch manchmal etwas.» Dafür sei sie sonst aber voll im Kollegium eingebunden und weil die Schule klein sei, liessen sich spontan und sofort Dinge verändern. «Das gefällt mir.»
Sich organisieren können, flexibel und offen sein: «Diese Eigenschaften brauchen Studierende, wenn sie sich für den studienbegleitenden Berufseinstieg entscheiden», sagt Irene Guidon. «Man muss die Begleitung annehmen wollen, zu seinen Stärken und Schwächen stehen können.» Umgekehrt müssten die begleitenden Lehrpersonen und die Schulen bereit sein, «Berufseinsteigerinnen und -einsteiger im Kollegium zu integrieren, die noch in der Ausbildung sind, und ihnen in den zwei Jahren Raum zum Lernen bieten.»

In den Beruf hineinwachsen
Leonie Dolder ist froh, dass sie Schritt für Schritt mehr Verantwortung übernehmen kann und so an die verschiedenen Aufgaben einer Lehrperson herangeführt wird, etwa an die der Klassenlehrperson. «Der Übergang ins Berufsleben fühlt sich deshalb etwas sanfter an», beschreibt sie es. Irene Guidon ist überzeugt, dass der studienbegleitende Berufseinstieg den Praxisbezug stärkt. Und sie ist sich sicher, dass auch die Schulen von den frühen Berufseinsteigerinnen und -einsteigern profitieren. «Die Schulleitungen sind jedenfalls sehr dankbar für dieses Angebot.» Bis jetzt haben sich stets genügend Begleitlehrpersonen für das Angebot gefunden.
Für Leonie Dolder ist klar, dass sie nach Abschluss des Studiums als Klassenlehrerin arbeiten möchte. Die Chancen stehen gut, dass sie dies 2023 auf dem Belpberg tun kann. Denn dann wird eine der Klassenlehrpersonen pensioniert.
Mireille Guggenbühler
Quereinsteiger und Teilzeitangestellte
Berufserfahrung sammeln, den Berufseinstieg beschleunigen oder den Lehrermangel entschärfen: Die Pädagogischen Hochschulen sind unter anderem aus diesen Gründen mit diversen Angeboten präsent. Ein paar Beispiele:
PH FHNW:
- Seit 2021: Studienvariante Quereinstieg für berufserfahrene Personen ab 30 Jahren.
- Ab Herbst 2022: Lehrgang «Studienintegrierter Berufseinstieg».
Die Studierenden unterrichten bei beiden Varianten im Umfang von 30 bis 50 Prozent ab dem zweiten bzw. letzten Studienjahr.
PH St. Gallen:
- Ab Herbst 2022: Pilotprojekt «Berufsintegriertes Studium» für angehende Lehrpersonen der Kindergarten- und Primarstufe. Ein ähnliches Projekt gibt es bereits für Lehrpersonen der Sekundarstufe I.
PH Luzern:
- Ab Sommer 2022: Konsekutives Masterangebot Sek I für Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Das neue Studium erlaubt Teilzeitanstellungen von bis zu 60 Prozent.
PH Zürich:
- Seit zehn Jahren: Quereinstieg-Studiengänge. Nach einer berufsvorbereitenden Phase (ein Jahr Vollzeitstudium) folgt die berufsintegrierte Phase mit Teilzeitanstellung als Co-Klassenlehrperson (40 bis 60 Prozent).
Zusammenstellung: Mireille Guggenbühler