

Sind Praktika ein nützlicher Einstieg oder kalkulierte Ausbeutung?
Zu tiefe Löhne, zu lange Praktika und danach keine Anschlusslösung: Viele Kinderkrippen in der Schweiz nutzen Schulabgängerinnen und Schulabgänger aus. Eine ehemalige Praktikantin und ihre damalige Chefin erzählen.
FaBe ist seit 2006 die Abkürzung für den Beruf der Fachperson Betreuung. Ein Traumberuf für viele Jugendliche, wie das hohe Interesse zeigt: Allein 2021 begannen in der Schweiz über 4000 Schulabgängerinnen und Schulabgänger eine Ausbildung zur FaBe. Entsprechend begehrt sind die freien Lehrstellen, vor allem in der Fachrichtung Kinder.
«Ich kenne Mädchen, die vor ihrer Lehre mehrere Jahre ein Praktikum in einer Kinderkrippe absolvierten.»
Geht es ums Geld, sind die Rahmenbedingungen aber wenig traumhaft. Für Kinderkrippen ist es heute finanziell nicht tragbar, ausschliesslich gelernte Fachpersonen anzustellen. Vor allem der Einsatz von Praktikantinnen lohnt sich für Kitas. Tiefe Lohnkosten schaffen für die Eltern bezahlbare Krippenplätze. Damit steigt das Risiko, dass nicht qualifizierte Betreuungspersonen — meist Jugendliche — mit der Betreuungsverantwortung konfrontiert sind.
Diese Situation hat Auswirkung auf jene jungen Leute, die eigentlich eine Lehre absolvieren möchten. «In meiner Berufsschulklasse gab es Mädchen, die vor ihrer Lehre mehrere Jahre ein Praktikum in einer Kinderkrippe absolvierten, bis sie die versprochene Lehrstelle erhielten. Andere arbeiten für 400 Franken pro Monat, wurden vom Arbeitgeber in keiner Weise betreut, hatten schon als Praktikantinnen die volle Verantwortung für eine Kindergruppe oder erledigten nur Putzarbeiten», sagt Lara Zumbrunn. Die heute Zwanzigjährige hat im Kanton Bern zuerst ein einjähriges Praktikum und später eine Lehre als FaBe in einer Kinderkrippe absolviert. Lara Zumbrunns Eindruck wird durch die aktuelle Umfrage von Savoirsocial, der schweizerischen Dachorganisation Arbeitswelt Soziales, bestätigt. Das 2020 durchgeführte Monitoring zeigt, dass nur knapp eine von vier Lernenden direkt nach der obligatorischen Schulzeit mit einer Lehre in einer Kinderkrippe beginnt. Die Mehrheit absolviert ein einjähriges Praktikum, aber auch zweijährige oder gar dreijährige Praktika sind gang und gäbe. Denn obwohl ein Praktikum vor Lehrbeginn offiziell nicht zur Ausbildung gehört, stellt es für viele Krippen eine implizite Voraussetzung für einen Lehrvertrag dar. Die Praktikumsbedingungen – Lohn, Dauer und Inhalt – unterstehen weder den Berufsbildungsverordnungen noch den Gesamtarbeitsverträgen und sind in den meisten Kantonen nicht geregelt. Dem eigenen Wunsch entsprechen die Einsätze nur in jedem fünften Fall. Bei über 70 Prozent basierte die Entscheidung für ein Praktikum vor allem auf der Forderung des Betriebs.
Zwei Praktikantinnen, eine Lehrstelle
«Ich war in vielen Aspekten eine Ausnahme: fairer Lohn, fachliche Betreuung, angenehme Arbeitsbedingungen und totale Transparenz betreffend die Lehrstellenvergabe», umschreibt Lara Zumbrunn ihre eigene Praktikumserfahrung. Bereut hat sie ihr Einstiegspraktikum bis heute noch nie. Verunsichert war sie jedoch in den ersten Wochen als Neuling. «Für zwei Praktikantinnen gab es nur eine Lehrstelle. Zusammenzuarbeiten, sich zu unterstützen und dabei zu wissen, dass eine von uns keine Lehrstelle erhält, war für mich sehr belastend», erinnert sie sich. Nach wenigen Wochen suchte die Krippenleitung das Gespräch mit den beiden Anwärterinnen und entschied sich für Lara. Die nicht berücksichtigte Praktikantin verliess später den Betrieb.
«Jugendliche werden mit Aussicht auf eine Lehrstelle für ein Praktikum motiviert, ohne am Ende einen Lehrvertrag zu erhalten. Aus dem Sozialbereich ist beispielsweise bekannt, dass rund ein Viertel der FaBe-Lernenden Praktika von mehr als einem Jahr absolvieren. Mehr als ein Drittel aller Praktikantinnen beginnen am Ende trotzdem keine Ausbildung in diesem Bereich», hält die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung in ihrer 2022 veröffentlichten Dokumentation «Trend im Fokus: Praktika vor Lehrbeginn» fest. Latent ist auch die Gefahr, dass Praktikantinnen und Praktikanten als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Das Solothurner Amt für Wirtschaft und Arbeit deckte 2019 auf, dass von 53 kontrollierten Kitas 23 Betriebe für ein Praktikum weniger als 4.40 Franken pro Stunde zahlten. Fünf Praktikantinnen verdienten im Stundenlohn weniger als 3 Franken. Bei elf Jugendlichen lag der Stundenansatz zwischen 3 und 4 Franken. Der Minimallohn für Praktika laut einer Empfehlung des Verbands Kinderbetreuung Schweiz kibesuisse wäre 4.40 Franken pro Stunde.
«Mehr Fachpersonal würde bedeuten, dass die Betreuung der Kinder für die Eltern um einiges teurer wird.»
2015 forderte der Schweizerische Verband des Personals öffentlicher Dienste das Unterbinden von Langzeitpraktika in der Kinderbetreuung. 2016 organisierte Savoirsocial zum ersten Mal einen runden Tisch. 2017 und 2021 fand das Treffen mit Vertretungen von Bund, Wirtschaft, Kantonen und Branchenverbänden erneut statt. Erste Kantone haben auf die Forderungen nach Transparenz und dem Einstellen der unabhängigen Praktika für Jugendliche unter 18 Jahren reagiert. Als Vorreiter zeigt sich der Kanton Bern. Hier gilt seit 2017 eine zeitliche Beschränkung von Vorpraktika auf sechs Monate. Betriebe dürfen grundsätzlich nicht mehr Praktikumsplätze für Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I anbieten, als ein Jahr später Lehrstellen zur Verfügung stehen. Wenn ein Lehrvertrag vorliegt, darf das Praktikum bis Lehrbeginn verlängert werden. Liegt kein Lehrvertrag vor, muss die Praktikantin als ungelernte Mitarbeitende angestellt werden mit einem entsprechenden Lohn von rund 3000 Franken.
Manchmal eine Chance
«Um eine Lehre als FaBe zu beginnen, ist kein Praktikum nötig. Vielen noch sehr jungen Schulabgängerinnen tut es jedoch gut. Es ist eine Chance, im Berufsalltag zu schnuppern, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen. Gleichzeitig können zum Beispiel schwache Lernende in der Praxis zeigen, was in ihnen steckt», sagt Lisa Plüss, Geschäftsleiterin einer Non-Profit-Organisation, die im Kanton Bern sieben Kitas betreibt. Um 245 Krippenplätze anbieten zu können, sind dort 140 Mitarbeitende im Einsatz. Davon sind 29 Lernende, dazu kommen 6 Praktikantinnen und 15 Zivildienstleistende. «Natürlich hätten wir gern mehr Fachpersonal. Doch das würde bedeuten, dass die Betreuung der Kinder für die Eltern um einiges teurer wird», sagt Plüss. Dass Praktikantinnen als «billige» Arbeitskräfte unverzichtbar sind, ist in der Schweizer Kita-Branche kein Geheimnis, sondern ein Geschäftsmodell. Sie unter fairen und professionellen Bedingungen anzustellen, sollte darum eine Selbstverständlichkeit sein.
Gesellschaftspolitisch nicht tragbar
«Wir stellen seit 2017 nur noch Schulabgängerinnen als Praktikantinnen ein, die ein sogenanntes Juveso-Jahr absolvieren. Zu diesem Sozialjahr gehört zum Praktikum auch ein Schultag pro Woche. Der Einsatz dauert ein Jahr. Bei Eignung wird nach wenigen Monaten die Lehrstelle zugesichert», erklärt Lisa Plüss. Die Praktikantinnen erhalten rund 800 Franken Lohn und werden engmaschig von einer gelernten Fachperson begleitet. Das heisst: Die Jugendlichen betreuen nie allein eine Kindergruppe, werden immer angeleitet und überdenken ihre Arbeit in regelmässigen Reflexionsgesprächen.

Eine solche Begleitung sei sehr zeitaufwendig, sagt Plüss und kritisiert die Branche: «In vielen Betrieben herrscht trotz ersten Auflagen vom Kanton immer noch ‹Wildwuchs› und die erlassenen Richtlinien werden kaum kontrolliert.» Zusätzlich begnügen sich viele der restlichen Kantone mit unverbindlichen Empfehlungen. Praktikumsdauer, Inhalt, Betreuung und Pflichten bleiben damit Interpretationssache der einzelnen Kitas. Praktikantinnen und Praktikanten auf Lehrstellensuche sind ihnen ausgeliefert. Savoirsocial beurteilt die aktuelle Situation immer noch als alarmierend.
«Dass Kindertagesstätten von der Funktionsstufe Praktikum abhängig sind, um die Elterntarife verkraftbar zu halten, ist heute gesellschaftspolitisch nicht mehr tragbar – weder unter dem Aspekt der ‹Nutzung günstiger Arbeitskräfte› noch im Hinblick auf die Bildungsqualität, welche unseren Kindern zusteht», schreibt kibesuisse in ihrem «Positionspapier zur Finanzierung pädagogischer Qualität in Kindertagesstätten». Ein Systemwechsel wird gefordert, doch tragen möchte diese Mehrkosten niemand. Laut kibesuisse würden die Mehrkosten für ausreichendes Fachpersonal in Kombination mit einem adäquaten Betreuungsschlüssel und den dazugehörigen Anstellungsbedingungen die Durchschnittskosten für einen Krippenplatz fast verdoppeln. Anfang März startete in der Schweiz die Unterschriftensammlung zur Kita-Initiative. Gefordert wird eine Umverteilung der Kosten: Die Finanzierung soll solidarisch über das Steuersystem erfolgen. Der Bund soll zwei Drittel der Kosten übernehmen. Den Rest teilen sich Kantone, Gemeinde und Eltern. Ob und wann die Initiative vor das Volk kommt, ist unklar. Klare Stellung bezieht Kinderbetreuungsfachfrau Lara Zumbrunn: «Die Finanzierungsprobleme werden oft auf dem Rücken von Praktikantinnen ausgetragen. Das ist nicht fair. Das Problem ist das System, und das sollte geändert werden.» Betreffen werden Lara Zumbrunn mögliche Änderungen kaum mehr. Sie macht im Moment die Berufsmatura und würde später gerne studieren.

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https://savoirsocial.ch > Projekte > Unabhängige Praktika – Info zu runden Tischen und Massnahmen
https://www.ehb.swiss/obs/praktika-vor-lehrbeginn – Publikation «Trend im Fokus: Praktika vor Lehrbeginn»